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Prolog

Die Soldaten überschwemmten die Weinberge wie eine graue Flutwelle. Nichts konnte sie bremsen. Reben, die über den Weg wucherten, brachen sie ab, Weinstöcke trampelten sie nieder. Augenblick um Augenblick schrumpfte der Abstand zwischen Vuancs Heer und der Weinstadt Sotam. Bei Anbruch der Dunkelheit würden die Soldaten sie erreichen.

Von ihrem Turmfenster aus blinzelte Agnes in die untergehende Sonne, schloss für einen Augenblick die Lider und ließ das warme Abendlicht über ihr Gesicht streicheln. Schließlich wandte sie sich vom Fenster ab, um sich umzukleiden. Eine innere Stimme sagte ihr, dass dies heute ihr letzter Abend sei. Sie wählte ein festliches Seidengewand und legte sich den goldbestickten Gürtel um die Hüften. Danach steckte sie ihr weißes Haar nach oben.

Agnes lebte zurückgezogen in einem perlmuttfarbenen Turm, umgeben von Weinbergen. Von ihrem Fenster aus hatte sie eine gute Aussicht auf Sotam, auf die engen Gassen und die schmucken Höfe und Fachwerkhäuser. Täglich strömten Besucher aus der Stadt zu ihr, erzählten ihre Sorgen, baten um Weisung. Im Laufe ihres langen Lebens hatte sie vielen Bittstellern mit ihrem Rat geholfen, vom Gelehrten bis zur Magd. Den Schreckensnachrichten der letzten Wochen jedoch konnte sie nichts entgegensetzen. Sie kniete nieder und sprach ein kurzes Gebet zu ihrem Gott. Kein Wort der Anklage oder des Hasses kam über ihre Lippen. Was auch immer geschah, sie wollte würdevoll sterben, mit Liebe im Herzen.

Innerlich gestärkt schritt sie die Wendeltreppe hinab. Dort erwartete sie bereits ein Greis, der sich in den Haaren raufte: ihr treuer Sekretär Sapiento.

"Oh Agnes, Hüterin der Gerechtigkeit", jammerte er. "Ihr müsst fliehen, sofort! Vuancs Heer rückt näher."

Agnes schenkte ihm ein gütiges Lächeln. Sie konnte nicht sofort antworten, das Treppensteigen hatte sie angestrengt, ihre Knie schwankten, ihr hohes Lebensalter forderte Tribut.

"Sind die Kundschafter zurück, Sapiento?" Fragte sie ruhig.

"Ja, ja, ja", stotterte der Zerzauste. Seit vierzig Jahren war er ihr Schreiber. Er arbeitete gewissenhaft und zuverlässig, ein stiller, bescheidener Mensch, der sich gewöhnlich im Hintergrund hielt und nur ab und zu einen Rat aussprach. Im Laufe der Jahre hatte sie ihn schätzen gelernt; nicht nur als treuen Sekretär, sondern auch als verschwiegenen Freund. Die augenblickliche Bedrohung jedoch überstieg seine Kräfte.

"Schnell, schnell, schnell", aufgeregt humpelte er zur Tür. "Die Boten."

Drei schweißüberströmte Männer traten ein. In ihren Gesichtern spiegelte sich Erschöpfung. Ihre Augen verrieten, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste.

"Oh Hüterin der Gerechtigkeit", sprudelte der erste hervor. "Vuanc hat den Rat der Drei zerschlagen. Erkon, Navan und Iman sind tot. Er ließ sie auf dem Marktplatz von Gemerra öffentlich hinrichten. Es ist gekommen, wie Ihr es befürchtet habt."

Agnes senkte das Haupt, murmelte ein stilles Gebet.

"Die Universität von Gemerra ist niedergebrannt", ergänzte der zweite Bote, "Bücher, Schriftrollen, Inventar - alles zerstört. Die Gelehrten der Universität - niedergemetzelt. Nichts ist übrig geblieben. Eine Handvoll Studenten konnte in den Schwarzen Wald fliehen. Alle anderen sind tot. Über tausend Gelehrte und Studierende."

"Brandschatzung und Plünderung, wo man nur hinsieht", fuhr der erste atemlos fort. "Alle Gotteshäuser zerstört, alle Priester unseres Heiligen Gottes ermordet. Wer überleben wollte, musste Vuanc wie einen Gott anbeten. Dieser Barbar behauptet: ihm gehöre unsere Insel Miancho, ihm gehöre jeder einzelne Landstrich. Wer sich nicht seinem Willen beuge, werde umgebracht. Das entspreche seinem göttlichen Willen. Er hat Männer zu seinen Priestern berufen. Diese Halsabschneider kleiden sich in violette Gewänder, pilgern durch die Trümmer und verkünden den wahren Glauben - behaupten sie."

"So reiht Vuanc nun noch Gotteslästerung an seine Verbrechen", murmelte Agnes betroffen.

"Im Vulkankrater nordöstlich von Gemerra lässt er einen Palast errichten. Seine Soldaten rauben alles, was heil geblieben ist, schleppen es dorthin. Möbel, Gold, Waffen, Seide, Korn, Brot, Bücher, Geiseln."

Agnes schwieg.

"Ehrwürdige Hüterin der Gerechtigkeit", meldete sich der dritte Bote zu Wort, "dieses Scheusal hat die Naturgewalten auf seiner Seite. Es ist unglaublich. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, ich hielte es für Lüge. Das Weideland im Westen der Insel hat sich in Wüste verwandelt. Alles Grün verdorrt, Bäume und Sträucher kahl, die Erde hart wie Stein. Eine riesige Fläche, es dauert sieben Tagesreisen, sie zu durchqueren. Beinahe ein Viertel unserer Insel! Alle Wasseradern versiegt. Von heute auf Morgen: Wüste. Die Hirten und Viehbauern stehen vor dem Ruin, flüchten nach Xamaria, an die Küste; Chaos, wo man nur hinsieht!"

Ein Schwindel erfasste Agnes, sie setzte sich und hielt sich einen Augenblick lang an den Stuhllehnen fest. Tränen erfüllten ihre Augen. Ihre Heimat, die Menschen, die sie liebte, alles wurde zerstört und ihr waren die Hände gebunden. Fünfzig Jahre lang hatte sie mit Geduld und Fingerspitzengefühl zwischen dem Volk und seinen Herrschern vermittelt, hatte Krisen bewältigt. Vor zehn Jahren zum Beispiel, als der Rat der Drei die Ernteabgaben von dem zehnten Teil auf den fünften Teil steigern wollte, was unter den Bauern einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen hatte, war sie zwischen die Fronten getreten und hatte mit Ausdauer einen Kompromiss ausgehandelt. Immer, wenn sie die Stimme erhoben hatte, war Frieden eingekehrt. Doch nun drohte Vuancs Stimme, eine Stimme voller Hass und Gewalt, ihr Lebenswerk zum Einstürzen zu bringen.

"Edle Hüterin der Gerechtigkeit", flehte der erste Bote, als könne er ihr Schweigen keinen Augenblick länger ertragen. "Unsere gerechten Herrscher sind tot. Es liegt an Euch, Vuanc aufzuhalten."

"Ruft Sotam zum Widerstand auf", forderte der zweite Bote. "Jeder soll sich bewaffnen - ob Frau oder Kind. Jeder soll sich Vuancs Heer entgegenstellen!"

Agnes dachte kurz nach. Sie verfügte über keine Mittel, weder Soldaten, noch Waffen, um Vuancs Vormarsch zu bremsen.

"Meine lieben Freunde, ich danke Euch für Eure Dienste. Ihr seid jung und voller Tatendrang. Solange es Menschen gibt wie Euch, besteht Hoffnung", sie hielt einen Augenblick inne und musterte die erwartungsvollen Gesichter. "Ich kann Sotam nicht zum Widerstand aufrufen. Eine Schar Weinbauer bewaffnet mit Winzermessern. Ohne Mauern, ohne Schutzwall. Was sollen sie gegen ein gerüstetes Heer ausrichten? Das gibt ein Massaker. Tausend Unschuldige werden sterben. Und am Ende siegt Vuanc doch. Nein, es wurde schon genug Blut vergossen. Ich bitte Sotams Einwohner, sich zu ergeben. Mir bleibt keine andere Wahl. Wenn ihr mir einen letzten Dienst erweisen wollt, dann eilt in die Stadt und verkündet meine Worte. Sagt allen: ergebt euch, doch gebt niemals eure Hoffnung auf. Heute siegt Vuanc, morgen wird er von unserem Gott entthront."

Die Boten verneigten sich und hasteten nach draußen zu ihren Pferden.

"Lasst uns fliehen so lange noch Zeit ist", bettelte Sapiento.Agnes nickte. "Ja, flieh! Bitte Ruben um Hilfe. Er soll dich in seinem Weinkeller verstecken. Dort wird dich niemand suchen." Sie drückte ihm herzlich die Hand. "Lebe wohl!""Aber Herrin", stotterte der zerzauste Sekretär. "Kommt Ihr nicht mit mir?"

"Unser Schöpfergott hat mir ein erfülltes langes Leben geschenkt. Heute ruft er mich zu sich."

"Kommt mit mir, edle Agnes. Wir verstecken uns!"

"Lieber Sapiento, versteh doch. Vuanc hat bereits die Drei ermordet. Er wird nicht eher ruhen, bis auch ich tot zu seinen Füßen liege. Ich muss mich ihm stellen. Dann wird das Blutvergießen ein Ende nehmen."

Eine Träne kullerte über die Wange des Sekretärs. "Dann bleibe ich bei Euch!"

"Nein", widersprach Agnes sanft. "Dir ist etwas anderes bestimmt. Rette dein Leben. Tu es um meinetwillen. Schreibe alles auf, was sich heute zugetragen hat als Zeugnis für die Kinder dieser Insel und ihrer Kindeskinder."

"Aber Agnes..."

Sie hörte bereits das Hufgetrampel des Heeres, die Stimmen der Soldaten und zum ersten Mal in ihrem Leben unterbrach sie einen Menschen mitten in der Rede.

"Flieh! Schreibe alles auf! Damit dienst du mir mehr, als wenn du mit mir stirbst!" Ohne eine Antwort abzuwarten, schob sie ihn aus dem Turm und schubste ihn in Richtung Sotam. "Los!" befahl sie. Erleichtert blickte sie ihm nach, wie er im Schutze der einbrechenden Dunkelheit davoneilte.Bald erkannte Agnes Silhouetten von unzähligen Reitern mit erhobenen Schwertern von Westen auf sich zugaloppieren. Unter ihren Schatten färbte sich das Land schwarz. An ihrer Spitze ritt Vuanc, umgeben von zwanzig Reitern in roten Uniformen. Er näherte sich bis auf wenige Schritte, brachte seinen Rappen zum Stehen und blickte auf Agnes herab. Sein Gesicht war vom Kampf entstellt. Vom linken Auge bis zu seinem Mundwinkel verlief eine tiefe Narbe. Als er die greise Frau in dem dünnen Seidenkleid vor sich stehen sah, zitternd und unbewaffnet, verzog er den Mund zu einer Grimasse."Edle Agnes", begrüßte er sie höflich. "Wie schön, Euch hier anzutreffen. Ich muss Euch um einen dringenden Rat bitten. In diesem Land leben Ungläubige, die mich nicht als ihren Gott verehren wollen. Was soll ich mit ihnen tun?"

Der Klang seiner Stimme rief in Agnes Schmerzen hervor. Doch sie richtete sich auf und warf ihrem Herausforderer einen stolzen Blick zurück.

"Ich kann dir nur so viel raten: wenn du weiterhin jeden ermordest, der dir in die Finger fällt, dann bleibt kein Mensch mehr übrig, über den du noch herrschen könntest."

Für einen Augenblick verzog Vuanc sein Gesicht und seine lange Narbe nahm die Form einer Schlange an, dann lächelte er wieder. "Gut geantwortet, verehrte Agnes. Ich bitte Euch noch um einen zweiten Rat: den ganzen Weg hierher zerbreche ich mir schon den Kopf, wie ich Euch töten soll. Was würdet Ihr mir raten? Soll ich Euch dreiteilen und in jede Stadt Mianchos ein Teil von Euch schicken oder soll ich Euch in meinen Palast verschleppen, wo sich meine Priester nach Belieben an Euch vergreifen können?"

"Nun", erwiderte Agnes, "ich kann dir die Wahl nicht abnehmen. Ich sage nur so viel: Je grausamer ich sterbe, um so länger wird das Volk mich als Märtyrerin verehren."

Er klatschte in die Hände, schwang sich vom Sattel und schritt auf sie zu. "Bravo. Meine alte Lehrmeisterin hat ihre scharfe Zunge nicht verloren. Es wäre die reinste Verschwendung, Euch zu ermorden. Ich mache Euch zu meiner Beraterin. Was haltet Ihr davon? Ihr müsst nichts weiter tun, als Euch vor mir niederzuwerfen und mich anzubeten. Dann seid Ihr gerettet."

Agnes musterte ihn schweigend. "Der Seelenstein hat deinen Verstand geraubt, scheint mir."

"Was ist so unvernünftig daran, herrschen zu wollen, statt zu dienen. Warum der Kleinste sein, wenn ich der Größte sein kann?"

"Wer von der Zerstörung lebt, zerstört sich irgendwann selbst", erwiderte Agnes.

Vuanc lachte laut auf. "Mehr habt Ihr mir nicht entgegenzusetzen? Vielleicht Euren Gott? Leider schweigt er, zeigt sich nicht, hilft Euch nicht." Er beugte sich dicht über ihr Ohr. "Ich werde diesen nutzlosen Gott abschaffen. Jedem, der ihn anbetet, reißen meine Priester die Zunge heraus. Jedem, der von ihm hört, schlagen sie die Ohren ab. Bald müssen sich die Eltern überlegen, von welchem Gott sie ihren Kindern erzählen. Von mir oder von einem ohnmächtigen Schöpfer, der ihnen nicht hilft. Und so wird es geschehen: Spätestens in zwei Generationen ist er vergessen."

"Mein Gott hat etwas, was dir fehlt: Geduld. Vielleicht schweigt er heute. Morgen wird er einen Retter schicken, der dich entthront."

"Niemand kann mich stürzen, denn Ihr werdet das Geheimnis meiner Macht mit in Euer Grab nehmen. Meine Herrschaft wird kein Ende haben. Und nun, verehrte Agnes, sagt Miancho lebewohl. Eure Zeit ist gekommen!" Er holte tief Luft und seine Augen funkelten lustvoll. "Stirb!" stieß er ihr entgegen. Sein Wort traf sie wie ein Dolch mitten ins Herz. Ohne Schrei brach sie in sich zusammen, ein letztes Gebet auf den Lippen.